Die Nacht ist wenig erholsam. Malins Blutdruck und Sauerstoffsättigung sind immer wieder zu tief – der Monitor reklamiert jedes mal lautstark. In regelmässigen Abständen wird Puls, Blutdruck und Atmung kontrolliert und gemessen, es ist ein Kommen und Gehen. An Schlaf ist nicht zu denken. Um fünf Uhr morgens kommt noch die Ärztin, um 6.30 werden wir zum Röntgen der Lungen aufgeboten. Ich habe das Gefühl, durch Malins etliche Komplikationen sind die Ärzte besonders vorsichtig geworden. Wir sind ja sowieso schon wach, also los gehts. Ich ziehe schnell noch die Jeans an, dann schieben wir Malin und «Kari» zum Lift und dann weiter zum Röntgenraum. Kein Mensch ist zu sehen, alle schlafen noch oder sind in ihren Zimmern. Es herrscht eine ungewohnte, ja schon beinahe eine gespenstische Stille im Spital. Erst auf dem Rückweg zur Station begegnen wir den ersten eintreffenden Spitalangestellten. Es kehrt Leben ein – der neue Tag beginnt.
Malin ist traurig – und frustriert. Dicke Tränen rinnen ihr über die Wangen. Wieder muss sie 10 Tage stationär bleiben. Wieder ein Rückschlag. «Was isch, wenn ich eifach wurdi devolaifä», will sie wissen. Es fällt mir keine schlaue Antwort ein, ich nehme sie einfach in die Arme, lasse sie weinen und versuche sie zu trösten. Zur Ablenkung etwas Musik? Ja - Wiudä Bärg möchte sie hören. Also lege ich mich neben sie aufs Bett, wir hören uns die schönen Texte an und schauen dazu die Filme zur Musik. «Ich ha Färnweh, nach dä Weyti nach dä Freyheit – will nu meh gseh...»
Irgendwann erwähnt sie beiläufig, dass sie nicht mehr richtig sieht. Von aussen ist nichts besonderes erkennbar. Die Kinderärztin macht einige einfache Sehtests und es wird offensichtlich: Mit Malins rechten Auge stimmt etwas nicht. Wir werden in der Augenklinik angemeldet.
Eigentlich sind meine Eltern hergekommen, um mich abzulösen. Aber Malins plötzlicher Sehverlust lässt mich nicht in Ruhe. Ich kann jetzt nicht nach Hause, bleibe hier bei ihr.
Eine erste Kontrolle ist mit den obligaten Ziffern und Buchstaben in verschiedenster Grösse, hell an die Wand projiziert. Die Augenärztin beginnt mit dem linken Auge, alles soweit in Ordnung. Dann das rechte Auge. Malin sieht nichts – nicht einmal als die Zahl 8 etwa 20 cm gross an der Wand steht – einfach nichts – nur einen dunklen Fleck! Ich kann es fast nicht glauben, bin sprachlos, spüre eine wachsende Anspannung. Nach über zwei Stunden und etlichen Untersuchen und Tests, nach Fotografieren und Tomographie des Auges steht die Diagnose fest: Durch den viel zu tiefen Thrombozytenwert und die starken Schwankungen des Blutdrucks (ausgelöst durch die Sepsis) kam es bei Malin zu Netzhaut-Blutungen im hinteren Bereich des rechten Auges. Die Blutung ist auf den Bildern deutlich erkennbar – Malin selber «sieht» ihn als dunklen Fleck, das Blut verdeckt quasi ihr Sichtfeld. Die Oberärztin und der leitende Arzt werden noch beigezogen, es ist noch nicht ganz klar, wie weit die Netzhaut tangiert ist. Wenn die Blutung zwischen Glaskörper und Netzhaut liegt, braucht es einfach viel Zeit, aber der Körper kann es selber regulieren. Falls die Blutung hinter der Netzhaut liegt, muss möglichst schnell operiert werden. (Der Glaskörper muss dabei vorübergehend entfernt werden - nur schon bei der blossen Vorstellung wird mir anders...) Es ist kein einfacher Eingriff und könnte zu weiteren Komplikationen führen. Ausserdem ist Malins Gesundheitszustand zu wenig stabil für eine OP und unter einem Thrombozytenwert von 50 wird grundsätzlich nicht operiert. Die Gefahr des Verblutens ist zu gross. Malins Wert liegt (trotz 5 Transfusionen in den letzten drei Tagen) erst bei 31! Es ist zum Verzweifeln...
Während der Wartezeit schauen wir den bunten Fischen zu, die mit starrem Blick im Aquarium schwimmen. Es beruhigt irgendwie.
Die Ärzte studieren die Bilder, Fotos und Querschnitte noch einmal genau, tauschen sich aus. Dann die Entwarnung: Es ist keine OP notwendig! Um jedoch weitere Blutungen zu verhindern, muss zwingend der Thrombozytenwert steigen (der 6. Beutel zum Transfundieren ist bereits bestellt) und der Blutdruck stabil bleiben.
Die Anspannung fällt langsam ab – jetzt bin ich nur noch erleichtert - und müde. Malin auch.
Nun hoffen wir auf einen Lichtblick – im wahrsten Sinne des Wortes...