Am letzten Freitag Nachmittag hat uns die Onkologin zu Hause angerufen. Sogleich kommt dieses ungute Gefühl auf - sind vielleicht irgendwelche Werte oder ist gar der neue Befund der Knochenmarkpunktion nicht gut? Stimmt sonst etwas nicht? Es sei nichts Schlimmes, beruhigt sie mich sofort, wohl ahnend, dass ich mir solche Gedanken machen würde. Sie erzählt von einem Mädchen, wenig älter als Malin mit ähnlicher Diagnose, welches zur Zeit stationär ist und Kontakt mit "Gleichgesinnten" sucht. Malin könne es sich in Ruhe überlegen und am Montag Bescheid geben, wenn wir wieder im Spital sind.
Bisher hatte Malin nur wenig Kontakt mit onkologischen Kindern. Überhaupt einen Kontakt aufzubauen erwies sich schon als recht schwierig. Einerseits weil es (zum Glück) nicht so viele sind und diese dann jeweils in ihren Einzelzimmern isoliert bleiben. Im Gang müssen sie ihren Mundschutz tragen und es ist auch nicht gerade ein Ort der Gemütlichkeit, der zum Plaudern und Verweilen einlädt. Im Gegenteil. Und oft sind sie einfach zu krank, es fehlt an Energie für alles. Die bisherigen Kontakte sind deshalb spärlich. Eigentlich schade, denn für die Kinder und Jugendlichen wäre es sicher wertvoll, sich austauschen zu können und zu sehen, dass sie mit ihrem Kampf nicht ganz alleine sind.
Nun ist es also soweit. Malins Port wird noch gereinigt (Actilyse), das Mittel muss eine halbe Stunde einwirken. Wir nutzen die Gelegenheit und die Pflegefachfrau und ich begleiten Malin ins Zimmer des Mädchens. Sie liegt genauso haarlos im Bett, verkabelt mit ihrem "Kari" - die Chemo läuft - ihr Vater sitzt daneben. Sie freut sich, strahlt uns an und die anfängliche Unsicherheit ist bald weg. Wir lassen die Mädchen alleine und ihr Vater und ich reden im Gang stehend eine ganze Weile. Er erzählt, wie sie die Diagnose kurz vor Weihnachten erhalten haben, aus heiterem Himmel. Wie sich auch ihr Leben völlig gedreht hat, in jedem Bereich. Dass sie trotz allem versucht sind, positiv zu bleiben - für ihre Tochter - es aber alles andere als einfach ist... man sieht es ihm an und.... ach, wie sehr verstehe ich ihn! Was er erzählt, haben wir genauso erlebt, genauso gefühlt...
Nach einer halben Stunde klopfe ich an die Tür, höre schon von draussen Gelächter. Die beiden Mädchen strahlen mich an. Wir verabschieden uns - Malins Werte reichen auch heute noch nicht, die Chemo ist einmal mehr verschoben. Auf dem Heimweg erzählt sie von den vielen Gemeinsamkeiten, von denselben Erfahrungen, was gut und was ganz einfach "scheisse" ist. Da haben sich zwei Mädchen gefunden, die wissen wovon sie reden - nämlich vom gleichen - zwei Mädchen, die einander so verstehen, wie wir "Aussenstehenden" es nie werden verstehen können. Denn: Ihr beider Leben schreibt zurzeit eine ähnlich schwierige Geschichte...
Die beiden freuen sich auf ein nächstes Treffen. Vielleicht am Freitag? Dann ist nämlich der fünfte Chemo-Start-Versuch in diesem Protokoll.
Malin nervt sich - überall sind Haare: In der Mütze, auf dem Kopfkissen, auf den Schultern... Die runden haarlosen Flecken - unter ihrer Mütze versteckt - findet sie schrecklich. Heute im Spital muss sie zum Port anstechen ihren Pulli ausziehen. Dermassen umständlich hat sie das noch nie gemacht: Sie scheint krampfhaft darum bemüht, dass ihr die Mütze auf keinen Fall wegrutscht. Wenn sie gar keine Haare hat, macht sie das nie, dann ist's ihr egal. Ihr Fazit: Die restlichen Haare müssen weg. Sie steht vor dem Badezimmerspiegel und rasiert sich eine rassige Frisur: Links und rechts kahl, in der Mitte lässt sie einen ziemlich zerzausten, lichten Haarstreifen stehen. Sie geht zu Joel und Enya und fragt: "Wiä findid iher das? Ich gah morn so i d'Schuel!" Im Gegensatz zu Joel, der recht gelassen bleibt in der Annahme, dass Malin so ganz bestimmt nicht gehen wird, reagiert Enya prompt und gewohnt unverblümt: "Nei, das gsehd ja schrecklich uis! Das chasch nid machä!"
Macht sie nicht - kurz darauf fällt auch der letzte Haarstreifen dem Rasiergerät zum Opfer. Zum zweitletzten mal.