Pechvogel

Der heutige Tag ist durchorganisiert. Am Morgen früh bereite ich das z'Mittag vor, schreibe Enya einen Zettel mit den Temperaturen und Zeiten, wann sie den Backofen vorheizen und das Blech hineinschieben kann. Enya und Padi sind heute Mittag zu zweit, Joel isst dienstags jeweils in der Mensa, ich habe länger Unterricht und Malin hat heute Spitaltag mit Chemostart. Kurz vor acht fahren wir los zu Grosmami - sie wird Malin heute ins Kispi begleiten, während ich in der Schule bin. Ungeklärte Fragen über Medikamente, Spritzen und Dosierungen schrieben wir vorgängig auf und hefteten den Zettel an den roten Ordner, der immer dabei ist und die wichtigsten Daten, Laborwerte und Termine enthält.

Die Blutwerte sind gut, Lumbal- und Knochenmarkpunktion, sowie die Chemo können gestartet werden. Malin erinnert die Pflegefachfrau an die Hormonspritze, die alle drei Monate zum Schutz der Eierstöcke fällig ist und bestenfalls unter Narkose gespritzt wird. Es ist ihr wirklich äusserst wichtig, dass die Spritze nicht nochmals vergessen geht. Das kann ich sehr wohl verstehen, denn die Nadel erinnert mich mehr an eine Stricknadel als an eine Spritze, so "dick" ist die. Durchaus ernst aber mit einem leicht ironischem Unterton meinte Malin gestern Abend: "Sell ich ächt grad HORMONSPRITZE uf mini Stirn schriebä? De gsehnds es ämu sicher..." 

Ist nicht nötig - alles klappt bestens. Die Chemo wird nun angehängt, es dauert noch eine Weile, weshalb ich mich auf den Weg nach Hause mache.  Grosmami bringt dann Malin später direkt zu uns. Unterwegs klingelt das Handy - zweimal kurz nacheinander. Das macht mich stutzig und ich fahre auf den nächsten Parkplatz, rufe die mir unbekannte Nummer zurück. Es ist der Schulhausleiter: Enya hätte beim Sportunterricht einen Sturz gehabt und müsse wohl zur weiteren Abklärung zum Arzt. Ich fahre direkt zum Schulhaus und da steht sie mit verweinten Augen und schmerzverzerrtem Gesicht neben ihm. Es muss wirklich sehr weh tun, Enya ist nämlich ziemlich hart im Nehmen und ganz und gar nicht zimperlich. Äusserlich ist nichts erkennbar aber ihr Arm schmerzt. In der Notaufnahme, nach langer Wartezeit (wir spielen "ich sehe etwas, was du nicht siehst...") und nach dem Röntgen ist dann klar: Enyas Arm ist gebrochen (fast an der selben Stelle wie vor vier Jahren), aber glücklicherweise so, dass keine Operation nötig ist. Sie wählt einen blauen Gips mit knallgelber Bandage - sieht peppig aus. Der Arzt erklärt ihr, sie müsse sich in den nächsten Tagen etwas schonen. "Kann ich aber heute trotzdem ins Staffeltraining vom Leichtathletik?" fragt sie ihn. 

Er schaut sie etwas überrascht an und schüttelt den Kopf. Nein - und den Nidwaldnerlauf am Wochenende dürfe sie leider auch noch nicht mitlaufen. Das ist blöd, findet sie, steckt es aber sogleich weg nach dem Motto: Ja nu, dann ist es halt so. Und ich - ich bin einfach froh, dass es "nur" ein Knochenbruch ist, Knochen wachsen wieder zusammen und gut ist's.

Wir sind schlussendlich einige Stunden in der Notaufnahme und die nette Pflegefachfrau entschuldigt sich mehrmals für die lange Wartezeit. Wenn sie wüsste, dass wir uns noch ganz andere Warte- und Spitalzeiten gewohnt sind...

 

Um unseren Pechvogel etwas aufzuheitern, darf sie sich etwas zum z'Nacht wünschen. Sie überlegt nicht lange: "Döner!" Na dann - auf dem Heimweg decken wir uns mit Döner für die ganze Familie ein, was vor allem Joel ausserordentlich freut! Für Malin nehmen wir zwangsläufig einen ohne Saucen, so kann sie zu Hause ihre eigenen frisch hinein füllen und das ganze wieder aufrollen. Ich schäle und schnipple noch ein paar Rüebli dazu (typische Mutterallüren und völlig überflüssig, finden die Kids, essen dann aber doch alle). Enya bringt uns mit ihrer Bemerkung zum Lachen, sie hätte vom Arzt einen Gutschein erhalten, damit sie morgen nicht in die Schule müsse. Sie meint damit das Arztzeugnis, aber "Gutschein" klingt noch besser - sie hat allerdings nicht vor, ihn einzulösen. Die Mädchen beschreiben Padi ihren turbulenten Tag mit ihren heutigen Spitalerlebnissen in Luzern und Stans, derweil Joel genüsslich seinen Döner verdrückt. Zum Dessert gibt es sogar noch frische Küchlein, welche Malin - kaum war sie zu Hause - für unseren heutigen Pechvogel gebacken und verziert hat. Zum Aufmuntern, meint sie - und hat damit ihr Ziel erreicht - Enya greift beherzt zu. 

Am Abend wagt sie einen Versuch, mit ihrem Gipsarm Gitarre zu spielen - scheitert aber an einigen Tönen - und so fällt denn auch das Muttertagskonzert vom Freitag ins Wasser. Trotzdem, die Schmerzen sind weniger und ihre Welt ist wieder in Ordnung - auch mit Gips am Arm.