Der Bagger fährt an. Ich höre, wie das Dach des Holzschopfs weggelöst wird. Baustart. Wie sieht es hier wohl aus, wenn ich in zwei Tagen wieder da bin?
Enyas Fieber ist ganz weg, trotzdem bleibt sie zu Hause, um sich noch richtig zu erholen. Grosi schaut zu ihr, ich fahre zu Malin.
Diese sitzt in ihrem Bett und rechnet die letzten Kohlenhydrate des Frühstücks aus. Gegessen hat sie noch nichts. Wenn sie jetzt das Insulin spritzt, dann muss sie das ganze berechnete Frühstück essen (Ein Vollkornbrötli mit Butter und Konfi, eine Milch mit einem halben Beutel Caotina, ein Schoggijoghurt). Denn wenn nicht, hat sie zu viel Insulin gespritzt, was wiederum ein Hypo (Unterzuckerung) auslösen könnte. Da wir aber in 10 Minuten bereits einen ersten Termin in der Tagesklinik haben, wird sie es nicht schaffen, alles vorher aufzuessen. Nur schnell das Joghurt, das geht nun eben nicht mehr. Also lässt sie es ganz bleiben, spritzt auch kein Insulin und geht zwangsläufig mit leerem Magen zuerst in die Ernährungs- dann in die Diabetesberatung. Unser Köpfe werden gefüllt mit Unmengen an Informationen. Wir schreiben auf, fragen nach. Mit einer grossen Tasche voller Unterlagen, Blutzuckermessgeräten, Pens, Nadeln, Stechhilfen, Insulin... kommen wir zurück auf die Station. Es ist schon Mittag - Malins Frühstück liegt noch immer auf dem Tablett, ihr Magen ist noch immer leer. Eines haben wir heute Morgen ganz sicher gelernt: Es braucht viel mehr Zeit - für alles.
Das Frühstück lässt sie nun sausen. "Schön blöd, jetzt han ich alles für nüd grächnet!" Die Pflegefachfrau kommt mit dem Mittagessen, dazu bringt sie Diabetesordner, Taschenrechner, Küchenwaage und zusätzliche Teller. Das Mittagsmenü wird richtig zerpflückt, alles kohlenhydrathaltige wird separat in andere Teller geschoben und abgewogen. Dann werden deren Kohlenhydratwerte im Ordner nachgeschaut und im Dreisatz zur richtigen Menge umgerechnet. Alle errechneten Werte werden zusammengezählt, dividiert durch 10 und multipliziert mit dem vom Facharzt angegebenen Faktor - bei Malin ist es im Moment 1,4. Dazu kommt die Korrektur des Blutzuckerwertes. Beides wird am Ende zusammengezählt, es ergibt die Einheiten des schnellwirksamen Insulins. Wir alle drei sitzen da, rechnen mit, schreiben auf und vergleichen die Endresultate. Alle haben richtig gerechnet. Schön, die Berechnung stimmt, aber dafür ist das Essen jetzt kalt. Es wird wieder möglichst schön auf den Teller drapiert (was nicht wirklich appetitlich gelingt), die Pflegefachfrau nimmt den Teller nochmals mit, um das Essen in der Mikrowelle wieder aufzuwärmen, währenddessen spritzt Malin das Insulin. Endlich darf sie essen!
Das Rudern hat sie schon lange aufgeben müssen, Velo fahren, wandern, laufen, snowboarden, schlitteln... kann sie auch nicht mehr. Und jetzt?
Das Kochen und Backen sind ihr geblieben und es machte ihr stets Freude, irgend etwas Feines zu kreieren. Wie hatte sie sich im Sommer darüber gefreut, endlich wieder alles essen zu dürfen!
Meistens stellte sie einen Stuhl in die Küche und wenn nötig, setzte sie sich kurz hin und machte eine Pause. Sie wusste sich zu helfen und liess sich nicht vom kreativen Tun in der Küche abhalten. Es wurde geknetet, gekocht, gebacken, (viel) probiert, schön angerichtet und garniert. Bis jetzt. Dass ihr diese Freude nun auch noch genommen werden soll - das macht mir ganz besonders Mühe.
Das ist doch einfach nicht fair...!
Langsam aber sicher wird einem richtig bewusst, was Diabetes Typ 1 im Alltag heisst...
Wie machen wir das mit spontanen Ausflügen? Mit Einladungen zum Essen? Restaurantbesuchen? Ferien? Pfadilager...?