Mit der Diabeteserkrankung haben wir uns - oder eher Malin sich - zwangsläufig arrangiert. Sie ist abgeklärt wie eh und je, rechnet aus und spritzt die nötige Insulinmenge. Was nützt es zu jammern? Ändern wird sich dadurch nichts. Es ist wie es ist. Auch das.
Wenn Malin "nur" die Diagnose Diabetes erhalten hätte - es wäre auch unlustig gewesen, aber ich glaube, wir hätten es alle mit Fassung getragen. Aber sie, sie kämpft gleichzeitig noch gegen den Krebs und gegen diverse therapiebedingten schlimmen Nebenwirkungen an...
Genau dieses "Gesamtpaket" ist es, das uns manchmal so Mühe macht! Alles miteinander, auf einen Klapf! Das ist schon sehr hart!
Der Umgang mit der Diabetes wird ihr und auch uns irgendwann leichter fallen. Wir werden immer besser wissen oder abschätzen können, wieviel Kohlenhydrate worin sind. Es wird mit der Zeit einfacher - sagen uns alle. Es wird wohl so sein.
Aber dieses Spontane, Unkomplizierte fällt weg und bleibt weg. Sie erhält ein Stück Kuchen in der Pause, darf es aber nicht einfach so essen. Sie backt Weihnachtsguetzli, kann aber weder den Teig noch die Guetzli spontan probieren. Auswärts essen ist auch komplizierter oder in der Bäckerei schnell ein Gipfeli oder ein Brötchen kaufen und sofort essen - geht nicht mehr. Bei jedem Essen muss sie sich überlegen, wie viele Kohlenhydrate da drin sind. Immer. Das ist (im Moment noch) anstrengend - und zermürbend. Denn das Zubereiten, Backen und Essen ist ein so wichtiger, ein schöner Teil in unserem Alltag. Geselligkeit, Vorfreude, Experimentierfreudigkeit in der Küche, offen für neue kreative Ideen, sei es in gekochter oder gebackener Form.
Auch für mich heisst es umstellen. Bis anhin kochte ich kaum nach Rezept, höchstens bei gewissen Gebäcken, ansonsten nicht. Ich liess mich vom Kühlschrankinhalt sowie von Bildern und interessanten Rezepten inspirieren, die ich irgendwo las und - neu kombiniert oder abgeändert - irgendwann ausprobierte. Als Joel letzthin nach Hause kam, schaute er etwas überrascht auf das aufgeschlagene Kochbuch und die Küchenwaage, die daneben stand. "Seit wann kochst du nach Rezept?"
Ein Nachteil meines "Handgelenk-mal-Pi-Kochens" ist: Ich weiss die genauen Mengenangaben nicht. Wieviel Mehl hat es da tatsächlich drin? Wieviel Milch? Ein "Gutsch" oder ungefähr eine Handvoll - diese Angaben reichen nun nicht mehr, sind zu ungenau für Malin, um berechnen zu können. Also muss ich bereits im Vorfeld daran denken, wovon ich wieviel zur Zubereitung des Gerichtes brauche. Und zwar ziemlich genau. Nur so kann sie die nötigen Einheiten Insulin berechnen. Mit der Zeit werden wir wohl lernen, die Mengen an Kohlenhydraten richtig abzuschätzen, so dass uns die ewige Rechnerei mehr und mehr erspart bleiben wird. Aber so weit sind wir noch nicht.
Seit einigen Tagen zeigt Malins Blutzuckerkurve immer häufiger nach unten. Oft fällt sie in eine Hypoglykämie, eine Unterzuckerung. Aber sie spürt sich recht gut, misst dann jeweils nach und reagiert sofort. Traubenzucker und Cola sind und bleiben zurzeit griffbereit.
Heute wäre eigentlich das alljährliche Waldapéro. Für Malin ist sonnenklar: Sie möchte hingehen. Wir jedoch haben so unsere Bedenken...
Was ist bei einem Fehltritt? Einem Stolperer über eine Wurzel? Ein Sturz liegt für sie einfach nicht drin - nicht auszudenken...
Etwas unschlüssig räumen wir noch einige Kleider um.
Vielleicht spontan und nur für einen kurzen Moment? Einfach so ein schnelles Apéro und vor dem Eindunkeln wieder nach Hause? Wäre ja schon schön...
Plötzlich ruft Malin, sie liegt in ihrem Bett, ein Schweissfilm auf der Stirn, es geht ihr offensichtlich nicht gut. Also Blutzucker messen - und - jetzt werde auch ich langsam nervös - er ist massiv zu tief, das Gerät zeigt nicht einmal mehr an. Es leuchtet nur gross "LO" und dann kommt der Text: "Ein niedriger Glukosewert kann gefährlich sein..." Versehen mit einem gelben Warndreieck und Ausrufezeichen! Nicht gerade beruhigend! Während sie sich die ersten Traubenzucker in den Mund steckt, versuchen wir es mit dem anderen Gerät und dem dazu nötigen Fingerpiks, aber auch dieses zeigt nichts mehr an. Ich renne nach unten, um noch mehr Traubenzucker und Fruchtsaft zu holen. Das letzte angebrochene Cola habe ich vor einer halben Stunde Padi mitgegeben...
Der Zucker scheint langsam zu wirken, das Gerät zeigt immerhin wieder an: 2,2.
Bin erleichtert, der Glukosewert ist zwar immer noch zu tief, steigt aber kontinuierlich an und Malin fühlt sich entsprechend besser.
Das eventuell-nur-ganz-kurze-vielleicht-doch-Apéro im Wald jedoch fällt nun definitiv ins Wasser. Nächstes Jahr dann wieder.
Ich nehme an, der Faktor müsste wohl nach unten korrigiert werden, denn so kann es ja kaum weiter gehen. Dies sei wahrscheinlich der "Honeymoon", meint der diensthabende Arzt im Kispi. Das komme bei einer neu diagnostizierter Diabetes häufig vor. Vorübergehend würde wesentlich weniger Insulin zusätzlich gebraucht, über kürzere oder auch längere Zeit. Genau wisse man das nicht.
Der Faktor wird entsprechend korrigiert, dem sogenannten "Honeymoon" angepasst.
Die starke Unterzuckerung heute hat uns vorsichtig gemacht und wir stellen wieder den Wecker in der Nacht, damit wir zwischendurch Malins Blutzuckerwert nachmessen können und wenn nötig frühzeitig reagieren können - noch bevor "LO" mit dem Warndreieck aufleuchtet...