Nach etwa drei Tagen fällt es mir zu Hause ein erstes mal auf: Malins Gangart ohne ihre Krücken sieht nicht mehr ganz so beschwerlich aus wie sonst. Sie läuft zwar noch immer rückwärts die Treppen hinunter, aber es scheint doch besser zu gehen. Täuscht es mich nur? Bloss eine Wunschvorstellung? Oder wirkt sich die neue Schmerzmittelmedikation positiv aus? Das wäre ja....
In der Tat: Der Schmerz sei zwar noch da, bestätigt Malin, aber doch weniger intensiv als sonst. Endlich...! Das ist doch eine gute Nachricht! Welch eine Erleichterung!
Auch die Integrativmedizinerin freut sich sehr über diese ungemein positive Rückmeldung. An der Medikation wird noch geschraubt auf die maximal mögliche Dosierung. Den Schmerz ganz weg zu bringen - das ist (auf ihren MRI-Bildern auch deutlich erkennbar) nicht realistisch. Auch nicht wirklich sinnvoll, denn das Schmerzempfinden zeigt ihr die wichtigen Grenzen auf: Malin darf die Knochen und Gelenke nicht überbelasten, die Gefahr eines Knochenbruchs wäre zu gross. Aber immerhin sind die Schmerzen endlich reduziert - das bringt ihr schon einiges mehr Lebensqualität in ihren Alltag!
Die Blutwerte sind gesunken - allesamt aber noch im erwünschten Bereich - die Chemodosierung wird vorläufig beibehalten. Wir sind auf dem Heimweg, auffällig ruhig ja fast bedrückt sitzt sie neben mir. Ich spreche sie darauf an, aber es kommt keine schlüssige Antwort. Und dann fliessen die Tränen und es wird mir klar warum: Semesterendspurt, das heisst, noch etliche grössere Prüfungen in verschieden Fächern stehen in den nächsten Tagen an. Und Malin sieht im Moment einfach nur ein gefühlt riesiger Berg vor sich und nicht drüber.
"Wie sell ich das alles schaffä...?" fragt sie verzweifelt. Nicht ganz zu unrecht, denn bereits nach ein paar gelesenen Sätzen, kämpft sie gegen diese verwünschte Müdigkeit und die Konzentrationsschwäche an - Nebenwirkungen der Medikamente.
Es kommt ja bemerkenswert selten vor, aber heute ist er wieder einmal da, dieser Moment mit dem unsäglichen Gefühl der Überforderung. Zuviel Druck lastet grad auf ihren Schultern. Viel davon auch selbst auferlegt. Denn der Anspruch an sich selber, noch dazu eine gute Note schreiben zu wollen, der hat jetzt nicht wirklich Platz. "Genügend" ist das Ziel und wir rechnen ihr in jedem Fach vor, was sie dazu brauchen würde. Beruhigt sieht sie ein, dass dies so irgendwie machbar wäre...
Ihr Gesichtsausdruck allerdings spricht für sich: Mit diesem berechneten Minimum würde sie nicht zufrieden sein. Ganz im Gegensatz zu ihrem grossen Bruder. Der hätte überhaupt kein Problem damit. Ist ja schliesslich "genügend", was will man mehr? Und wir wünschten ihr grad eine Scheibe von seiner lockeren Gelassenheit bezüglich Schule.
Aber Malin tickt anders. Ihr Wille, ihr Ehrgeiz und ihr sturer Kopf, der ihr wahrscheinlich überhaupt ermöglichte, ihren Weg bis hierhin zu schaffen, kommen ihr manchmal eben auch in die Quere.
Wir reden mit ihr und bekräftigen einmal mehr, wir würden auch sofort zum Hörer greifen, um sie in der Schule abzumelden. Ein ärztliches Zeugnis bekämen wir innert Kürze von etlichen Ärzten unterschrieben, wenn sie eine Auszeit bräuchte. Jeder würde das verstehen! Wirklich jeder!
Aber, da könnten wir wohl auch an eine Wand reden, für sowas findet sie kein Gehör, will partout nichts davon wissen! Keine Extrawürste - Kopf runter und weiter geht's, lautet ihre Devise.
Da drückt er wieder durch, eben dieser sture Kopf, dieser eiserne Wille - der ihr gerade die letzten 21 Monate so oft zugute kam - zu ihrem und unserem Glück!