Der Bus fährt um 5.47. Noch im Dunkeln, mit Rucksack und Rollstuhl bestückt stehen wir parat und haben eine lange Reise vor uns: Fünf Stunden Zugfahrt für nur ein Gespräch - und dann dieselbe Strecke wieder zurück. Wir haben uns bewusst für den Zug entschieden: Für eine entspannte Anfahrt mit lesen, dösen, essen, spielen, reden, die vorbeirauschende Gegend bewundern und vor allem den Kopf "abschalten" und einfach sein. Weder sich auf den hektischen Strassenverkehr konzentrieren zu müssen noch sich um unvorhersehbare Staus, Autopannen oder volle Parkhäuser zu kümmern. Die Klinik liegt unweit des Hauptbahnhofs und ist somit zu Fuss gut erreichbar.
So früh am Morgen geht es auch im Luzerner Bahnhof noch ungewohnt ruhig zu und her.
Irgendwo in der Nähe von Schaffhausen bleibt der Zug unplanmässig stehen. Irgendwo im nirgendwo - und dies für längere Zeit. Es folgt eine Durchsage: "Aufgrund von Problemen mit den Weichen muss mit einer Verspätung von 20 Minuten gerechnet werden.
Da haben wir den Salat! Uns bleibt keine Chance, den Anschlusszug nach Stuttgart zu erwischen! Folglich sitzen wir eine Stunde in Singen fest, bis wir den nächsten Zug nehmen können. Stressfrei und vielleicht sogar erholsam stellte ich mir die Zugfahrt vor. Nun aber ist der Stress vorprogrammiert. Ich werde zunehmend unruhiger. Das wird knapp...
Endlich sitzen wir im Zug nach Stuttgart. Nach einer Stunde hält auch dieser irgendwo. Es folgt die Durchsage: "Wegen Personenunfall bleibt die Strecke auf unbestimmte Zeit gesperrt!"
Ein Suizidversuch bei einem Bahnhof in der Nähe, wie wir später erfahren. Meine Güte! Betroffenheit.
Sämtliche Züge wurden gestoppt. Die Zugtüren werden geöffnet, man darf aussteigen, um sich die Beine zu vertreten.
Die Handys laufen sturm, überall wird über die Verspätung informiert, ein Stimmengewirr. Auch ich wähle die Nummer der Klinik an. Dann aber höre ich eine laute, gefühllos entnervte Stimme, die mich für einen Moment bestürzt inne halten lässt:
"Da hat sich mal wieder jemand vor den Zug geworfen - ich komme später!"
Nicht ein Hauch von Mitgefühl! Es beschäftigt mich noch den ganzen Tag.
Endlich erreiche ich die Sekretärin aus der Klinik und erkläre ihr die besonderen Umstände. "Das wird schon," sagt sie, "wir werden schauen, dass Sie sicherlich noch einen Termin kriegen heute. Schliesslich sind Sie den ganzen weiten Weg bis hierhin gefahren."
Bin ich froh!
Nach geschlagenen sechseinhalb Stunden treffen wir in Stuttgart ein, rennen in die Klinik, Malin in rassigem Tempo vor uns schiebend. Ziemlich aus der Puste kommen wir an, fragen uns durch - wo...? Wie weit...? Wer...?
Endlich sitzen wir angemeldet (und nudelfertig) in der richtigen Wartehalle mit noch etlichen anderen. Die Nachricht, dass der Professor an eine Notoperation musste und wir uns deshalb auf eine längere Wartezeit einstellen müssten - nehmen wir mittlerweile ungerührt zur Kenntnis. Auch egal. Padi schläft tief und fest auf einer Bank im Warteraum ein.
Der Professor untersucht Malin, schaut sich die Bilder an und findet: "In der Tat gibt es nicht viele vergleichbare Fälle. Es sind nicht die Nekrosen am Knochenhals, die das Problem sind, sondern jene ausgeprägten Nekrosen am Gelenkkopf. Die Erfahrungen mit solchen Fällen liegen im einstelligen Bereich. Versprechen kann ich nichts - aber ein Versuch ist es wert!"
Konkret würden die betroffenen Knochen an mehreren Stellen ganz fein angebohrt. Diese bewusst gesetzten kleinen Verletzungen sollen den Reiz zur Selbstheilung der Knochen auslösen, wieder "Leben" in den Knochen bringen. So quasi: "Hallo Körper, hier ist eine Wunde, schicke die nötige Hilfe hier hin!"
Für uns heisst das: Am Sonntag erneut nach Stuttgart reisen, am Montag Morgen steht bereits um 7.45 der erste Kontrolltermin an. Am Dienstag ist die Operation vorgesehen und voraussichtlich am Wochenende dürften wir wieder nach Hause.
Malin ist unmotiviert - sehr sogar - aber sie selber findet, dass es ein Versuch wert ist. Die Vorstellung, vielleicht in absehbarer Zeit wieder einigermassen schmerzfrei gehen zu können, trägt das nötige dazu bei.