OP

 

Ursprünglich wäre Malins OP-Termin aufgrund ihrer Diabetes früh morgens geplant gewesen. Das macht Sinn, denn sie muss ja vor der Vollnarkose nüchtern sein, darf weder essen noch trinken, woraufhin ihr Blutzuckerspiegel relativ rasch sinkt. Aufgrund irgendwelchen "Planungsengpässen" und Terminüberschneidungen wurden die Zeiten aber wieder geändert. Nun ist sie erst um 11.55 an der Reihe. Unter anderen Umständen wäre dieser späte Termin kein Problem, mit dem Diabetes allerdings schon. Erst recht, weil sie in letzter Zeit unverhältnismässig oft und irgendwie unbegründet unterzuckert war. Wie mit der Anästhesistin gestern besprochen, hat Malin das Langzeitinsulin gestern Abend sowie heute Morgen um mehr als die Hälfte reduziert.

 

Um neun komme ich ins Zimmer und da liegt sie bereits frisch geduscht mit schickem Klinikhemd und den obligaten rassigen Spital-Netzhösli im Bett. Der Blutzuckerwert ist schon jetzt grenzwertig tief, Tendenz sinkend. Der für Malin zuständige Pflegefachmann sagt, sie könne notfalls einen klaren Apfelsaft trinken oder Traubenzucker nehmen. Traubenzucker haben wir dabei, den Apfelsaft bringt er uns. Sie braucht letztlich beides, damit wir ihren Blutzucker einigermassen auf dem Minimum stabil halten können. Ich stelle irritiert fest, dass niemand weder Malins Blutzuckermessgerät kennt noch vertraut ist mit den damit gemessenen Werten. Sie können mit diesen Zahlen nichts anfangen, in Deutschland wird mit einem anderen Umrechnungsfaktor gerechnet. Kurzerhand übergeben sie mir die Verantwortung. Also kontrolliere ich in kurzen Abständen und schiebe ihr bei Bedarf ein Traubenzucker in den Mund. Doch der OP-Termin verzögert sich immer mehr und ich werde zunehmend unruhiger. Endlich werden wir in den OP-Vorraum gebracht aber auch dort heisst es wieder: Warten. Eine Pflegefachfrau fragt nochmals nach, wann Malin das letzte mal gegessen und getrunken hätte. Sie verzieht säuerlich das Gesicht, als wir ihr von Traubenzucker und Apfelsaft berichten. Nun bin auch ich innerlich genervt, das gibt's doch nicht! Hallo...? Könnte man das vielleicht auch ein bisschen anders planen? Schliesslich haben die gewusst, dass Malin Diabetikerin ist, ich musste es ja gestern oft genug mündlich und schriftlich erklären und ausfüllen!

 

Ein kleiner Junge wird mit dem Bett neben Malin geschoben. Die Beruhigungsmittel wirken bereits, er schläft schon tief. Auch seine Begleitung wird nach der letzten Essens- und Trinkzeit gefragt. Die Mutter erklärt, sie hätte ihm vor zwei Stunden noch ein wenig mit sehr viel Wasser verdünnten Vitamin-Fruchtsaft gereicht.

"Was habe Sie?"

"... mit sehr viel Wasser verdünnt..." betont die Mutter abermals. Nützt nichts. Hektisch wird nun telefoniert und abgeklärt. Der Anästhesist kommt nach einer Weile wieder und klärt die Mutter auf: Die OP kann nicht durchgeführt werden. Es sei zu gefährlich, unter diesen Umständen eine Narkose durch zu führen. Der Magen muss leer sein. Die Mutter ist sichtlich verwirrt, das Bett mit dem schlafenden Jungen wird kurzerhand wieder aus dem Raum geschoben. Malin und ich bleiben verunsichert zurück. Nun mache ich mir erst recht Sorgen. Was ist denn mit dem Apfelsaft und dem Traubenzucker, Herrgott nochmal? Ist DAS auch gefährlich?

Wenn schon Flüssigkeiten, dann müssen sie klar sein, heisst es. Keine Milch, keine Smoothies oder ähnliches, auch nicht verdünnt.

Immerhin, der Apfelsaft, den Malin vom Spital erhielt, war ein Konzentrat. Wirklich beruhigen kann mich das allerdings nicht mehr. Ich höre, wie im Aufwachraum nebenan von einer hysterischen Mutter erzählt wird, die beruhigt werden musste. Nein, sie meinen nicht mich, ich bin nach aussen hin (noch) ruhig - aber wenn es jetzt nicht bald vorwärts geht, kommt in der Tat schon bald eine zweite dazu...

Wenn ich nur dieses verflixte Messgerät mit nach unten genommen hätte! Aber kann ich ahnen, dass sich die Warterei hier noch so viel länger hinzieht? Was ist, wenn Malin während der OP ins Hypo fällt? Ich werde noch unruhiger, Malin merkt es mir an: "Am Morgä bin ich nervös gsi, jetzt bisch es dui!"

 

Um 13.30 ist es endlich soweit. Ich verabschiede mich von Malin, erinnere die neue Pflegefachfrau nochmals daran, dringend den Blutzucker zu messen, dann wird das Bett in den OP-Raum geschoben. Ich laufe zurück, muss raus hier aus dieser Klinik und bin einmal mehr froh um das "Blaue Haus", ein passender Zufluchtort für diesen Moment. Das mulmige Gefühl allerdings werde ich auch hier nicht los.

 

Nach knapp drei Stunden wird Malin zurück auf die Station gebracht. Die Beine sind grosszügig eingebunden, es geht ihr soweit gut! Mir fällt ein Stein vom Herz! Sie wird zusätzlich an die Schmerzmittelpumpe angeschlossen. Die kennt sie ja bereits: Wenn die Schmerzen zu stark werden, kann sie durch einen Knopfdruck den Bolus auslösen, der direkt in die Venen abgegeben wird. Im Gegensatz zu ihrer Bettnachbarin darf Malin sofort wieder essen und trinken, da ihr Blutzuckerspiegel wie erwartet zu tief ist. Kein Wunder!

 

Schon bald kommen die beiden Chirurgen ins Zimmer. Die Operation sei soweit gut verlaufen, sagen sie. Der Befund sei durchaus ungewöhnlich und sie hätten zusätzlich unter dem Knorpel weiches Knochengewebe entdeckt, das nun hoffentlich mit der Zeit ebenfalls wieder fest werden sollte. Der Professor ergänzt dann noch etwas Positives: Die Knorpel selber seien zwar stellenweise vom Knochen abgelöst, aber ansonsten intakt. Das sei schon mal gut! Ob der heutige Eingriff den erhofften Erfolg bringen wird, kann man allerdings erst in ein paar Monaten erkennen.

 

Ich für meinen Teil bin erstmal erleichtert: Malin ist nach diesen Blutzuckerturbulenzen aufgrund der langen Warterei wohlbehalten zurück auf dem Zimmer und wird langsam richtig wach! Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.