Nebenrollen

Ich fordere Enya auf, ihre Schuhe richtig zu versorgen. Sie kontert: "Malins Schuhe liegen auch da!" 

Sie hat recht, tun sie - und zwar immer - und das schon lange, nämlich seit sie krank ist.

Zu Malin sagen wir meistens nichts. Zu Enya und Joel hingegen schon. Nicht immer aber doch oft. Auch sie beide haben einen gewissen "Sonderbonus", bei manchen Dingen sind wir toleranter und nachsichtiger als früher. Oft lassen wir "s'Füfi la grad sii", manchmal mangels Energie, manchmal um ihnen bewusst entgegen zu kommen, da die letzten beiden Jahre schliesslich auch nicht spurlos an ihnen vorbei gingen.

 

Die Schuhe - nur ein kleines, banales Beispiel aus dem Alltag. Es gibt noch viel anderes, was wir bei Malin dulden und dabei beide Augen zudrücken, weil sie ihre Energie nun schlicht anderweitig braucht. Bei den anderen beiden hingegen weniger, da sagen wir schon mal was. Sie verstehen es wohl, bekommen schliesslich hautnah mit, wie Malin körperlich eingeschränkt ist, Unvorstellbares ertragen und auf so vieles verzichten musste. Immer noch. Und trotzdem spürt man seit einiger Zeit, das Mass an geschwisterlicher Empathie und Akzeptanz scheint langsam voll zu sein.

Manchmal macht genau das uns Mühe - und dennoch verstehen wir auch sie.

 

Denn, auch die Geschwister eines lebensbedrohlich erkrankten Kindes stecken viel zurück. Auf einmal sind weder Wanderungen, Ausflüge noch Ferien möglich und die Eltern pendeln zwischen Spital und Zuhause. Die Familienkonstellation wird auf einen Schlag verändert, die Rollen umverteilt. Das kranke Kind wird unfreiwillig in den Mittelpunkt katapultiert und den Geschwistern bleibt keine andere Wahl als dies so anzunehmen, zu akzeptieren und dabei noch Mitgefühl und Verständnis zu zeigen. Das ist viel verlangt.

Klar, dass das nicht immer gleich gut gelingt. Dazu kommt: Unbewusst fragen die meisten zuerst nach dem Befinden des kranken Kindes. Erst danach wird (vielleicht) gefragt, wie es denn ihnen geht. 

Joel und Enya wurde auf einmal eine unfreiwillige "Nebenrolle" aufgedrückt. Ob sie wollten oder nicht. Noch dazu kam der Familienalltag, der gänzlich aus den gewohnten Fugen geriet und die latente Angst um Malin, die immer unterschwellig in der Luft hing.

Auf einmal war alles anders. Und zurück ging's nicht.

Als Geschwister damit umgehen können war sicher nicht einfach. Erst recht in der Pubertät nicht, wo man eigentlich schon genug mit sich selber zu tun hätte.

 

Vor Malins Erkrankung war irgendwie alles so klar. Der Familienalltag lief mit den üblichen Höhen und Tiefen. Und dann - peng! - ist auf einmal gar nichts mehr klar, alles gerät durcheinander, muss neu geordnet und definiert werden.

 

Wie schaffen wir es, allen dreien gerecht zu werden? Wie teilen wir unsere Zeit ein? Was ist verständlich und was ist ungerecht den Geschwistern gegenüber? Darf man überhaupt noch sagen, was einen vielleicht stört, ohne deswegen sofort ein schlechtes Gewissen zu haben? Was liegt noch drin, was nicht mehr? Wo sind die Grenzen? Fühlen sie sich benachteiligt? Unverstanden? Ist diese in gewisser Weise "erzieherische Doppelspurigkeit", diese Ungleichheit in verschiedenen Situationen nachvollziehbar für sie? Fühlen sie sich trotzdem ausreichend getragen und unterstützt von uns? Wie gehen wir mit der Angst um?......

 

Für uns als Eltern war dies eine zusätzliche Herausforderung und nicht einfach. Nach Kräften haben wir versucht, auch für Joel und Enya da zu sein, uns bewusst Zeit zu nehmen für sie und sie von Herzen spüren lassen, dass sie uns genauso wichtig sind!

 

Es liegt ein stotziger Weg hinter uns als Familie. Eine Abkürzung gab es nicht, weder für Malin, noch für uns anderen. Wir mussten zusammen da durch. Letztlich glaube ich aber, dass wir durch unsere ungewöhnliche Lebenssituation nicht nur zu Malin eine innige, besondere Verbundenheit entwickelten, sondern auch zu Joel und Enya. Es hat uns als Familie extrem gefordert (oft überfordert) aber auch gestärkt.

 

Das will nicht heissen, dass wir nun vor Auseinandersetzungen, Diskussionen und Konflikten gefeit wären - im Gegenteil, das ganze Programm gibt's auch bei uns. Wieder. Und trotz allem noch.

Irgendwann beginnt man jedoch zu relativieren und merkt, dass man die Streitereien zwischen den Kindern auf einmal nicht mehr so nervenaufreibend findet wie auch schon... 

Denn wir haben auch erlebt wie es ist, wenn die Angst, die Traurigkeit und die Sorgen Überhand nehmen. In dieser Phase wurde es manchmal fast unheimlich still bei uns, wir waren irgendwie verstummt und wie gelähmt. Vor allem im ersten halben Jahr war es manchmal so und ich bin froh, dass wir es damals schafften, aus dieser beelendenden "Starre" wieder auszubrechen. 

So erinnere ich mich sehr gut an die erste wieder lautere Auseinandersetzung zwischen Enya und Joel nach dieser ernsthaften und stillen Zeit und ich dachte mir: Endlich sind wir wieder da! 

Wie war ich froh darüber!

 

Und jetzt? Noch einen Monat Chemotherapie! Malin ist auf der Schlussetappe! Und wir mit ihr.

Der Gipfel ist in Sichtweite.

Es fühlt sich gut an!