Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, ich versuche sachte, Enya zu wecken. Keine Regung. Irgendwann dreht sie sich um und schläft tief und fest weiter. Verständlich, ist ja auch wirklich fast mitten in der Nacht...
Endlich kneift sie die Augen zusammen und brummelt mürrisch: "Hei, mich sch….. das jetzt so an! Der Frühling ist da - ich habe jetzt genug vom Skifahren!"
Die letzten beiden Skirennen (Migros Grand Prix Final auf dem Sörenberg) stehen an, ihre Stimmung und Motivation dazu sind allerdings in dieser frühen Morgenstunde irgendwo beim Nullpunkt - oder noch tiefer.
Kommt mir bekannt vor, war letztes Jahr schon so. Sie fährt wirklich sehr gern Ski, aber irgendwann reicht's ihr einfach, hat sie die Nase voll vom Schnee. Spätestens dann, wenn draussen die Tulpen und Narzissen blühen wird es Zeit für Rollschuhe, Velo und Trampolin...
Langsam wird sie wach, ihre gewohnte Power kehrt ein, die Laune wird spürbar besser. Sie frühstückt und zwängt sich in ihr Renndress, während Padi das Gepäck ins Auto verstaut - dann fahren die beiden los. Das Wetter ist perfekt und die zwei werden die letzten Schneetage der Saison sicher noch so richtig geniessen können. Trotz Tulpen und Narzissen.
Auch Joel haben wir mit Sack und Pack an den Bahnhof gebracht, er hat das kantonale Pfadiweekend vor sich. Und mittlerweile sind auch Malin und ich unterwegs zur monatlichen Sprechstunde bei den Integrativärzten.
Verschiedene Themen werden dabei angesprochen, Medikamente ausgetestet, Dosierungen geändert. Die Schmerzmitteldosis wird vorläufig beibehalten, damit Malin besser spüren kann, ob und wann bei ihren Knochen eine erhoffte Besserung eintritt.
Gegen ihre in letzter Zeit immer wieder aus heiterem Himmel auftretende Traurigkeit erhält sie homöopathische Globuli und die Ärztin weist sie zusätzlich auf das "expressive Schreiben" hin und zeigt uns eine kurze Filmsequenz, was genau damit gemeint ist.
Es geht um die Verarbeitung durch Schreiben. Jeden Tag zehn Minuten lang. Rechtschreibung sowie Satzstellung sind egal. Einfach schreiben, so richtig von der Seele kritzeln. Alles was sie denkt und fühlt, was sie traurig oder wütend macht.
Auch was damit gemacht wird, ist egal.
"Du kannst es sofort wieder zerreissen, du kannst es verbrennen, du kannst es aber auch sammeln und später wieder lesen. Du musst aber nicht - du kannst auch schreiben ohne das Ganze je wieder zu lesen... einfach so, wie es für dich passt!"
Malin hat inzwischen sehr viele Tagebücher erhalten - die meisten davon sind jedoch noch ziemlich leer. Schreiben ist (bis jetzt) nicht so ihr Ding. Schon oft habe ich sie auch darauf angesprochen, ob sie vielleicht irgendwas zu ihrem "Bärguif" schreiben möchte? Aber sie hat kein Gehör dafür. Ist auch okay.
"Im Übrigen", jetzt schaut die Ärztin mich an, "wäre das auch für Mütter und Väter eine geeignete Methode zum Verarbeiten."
Sie hat recht. Ich sage ihr, dass ich das bereits tue und es mir tatsächlich viel bringt. Es ist (m)eine Art, das ganze irgendwie zu verarbeiten, ohne zu vergessen. Eine Möglichkeit, Gefühle wie Trauer, Unverständnis, Wut, Ohnmacht, aber auch Glück und Zuversicht - alle diese erlebten Höhen und Tiefen auszudrücken und "wegzuschreiben".
Es hilft mir - vielleicht auch Malin? Das würde mich freuen für sie. Die Ärztin nimmt Malin ein Versprechen ab: Sie soll jeden Tag zehn Minuten schreiben.
Ganz egal was, ganz egal wie viel, ganz egal was daraus wird - ob sie es weglegt, verbrennt oder zerreisst...
Wir sind auf dem Heimweg, überlegen uns, was wir mit dem angebrochenen Samstag Nachmittag noch tun könnten. Dazu setzen wir uns für eine Weile in Beckenried an den See. Die Wiese, im Sommer vollgestopft mit Badefreudigen, ist heute leer. Wir geniessen die Ruhe, die Sonne, das Wasser.
"Am liebschtä wurd ich go Vespa fahrä!" findet sie.
Oder wir könnten einen Spaziergang verbinden mit einem Besuch bei den Grosseltern? Aber bei welchen? Am liebsten grad alles - geht aber nicht, also fahren wir zuerst nach Hause und überlegen uns eine mögliche Reihenfolge.
Es erübrigt sich, denn kaum zu Hause hören wir schon das vertraute Motorengeräusch von Grosspapis Vespa. Während Malin mit ihm die gewünschte Tour fährt, besuchen uns spontan auch noch Grossdädi und Grosi. Sowas! Genau so, wie sie es sich ausgemalt hatte. Eine Vespafahrt und Besuch von beiden Grosseltern - perfekt!