Zu Hause am PC studiere ich die neuen MRI-Bilder von Malins Beinen. Auch als Laie erkennt man deutlich: Die Nekrosen sind nicht weniger, im Gegenteil, sogar die Kniescheiben sind mittlerweile betroffen. Den Bericht dazu haben wir gelesen - nun ja, wohl eher versucht zu lesen. In dieser detaillierten, komplizierten Orthopädie-Fachsprache ist das ein schwieriges Unterfangen. Was wir jedoch zweifelsfrei verstehen: Der Bericht fällt nicht positiv aus. Nun haben wir noch die Bilder dazu und es ist leider allzu deutlich, wie desaströs die Knochen aussehen.
Seit mehr als eineinhalb Jahren geht Malin an Stöcken. Kurze Strecken (zum Beispiel zu Hause) läuft sie ohne, für länger Strecken braucht sie den Rollstuhl. Sie nimmt dreimal täglich hochdosierte Schmerzmittel ein, damit sie so gehen kann, wie sie dies tut. Trotzdem ist sie nicht schmerzfrei. Auf die Dauer kann das kein Zustand sein und es macht nicht den Anschein, dass sich in naher Zukunft etwas daran ändern wird. Im Gegenteil. Also wird sie von einem Orthopäden zum nächsten weiter verwiesen (oder eher "abgeschoben"?). Bisher wusste keiner, was man in einem solchen Fall tun kann/ tun müsste. Und so erhalten wir jeweils einen schriftlichen Bericht der Sprechstunde - und hören dann nichts mehr. So geht das. Niemand scheint sich wirklich zuständig zu fühlen. Ein ohnmächtiges Gefühl.
Heute haben wir auf unseren Wunsch hin einen neuen Termin, bei einem bekannten Professor für Orthopädie in Basel. Wir haben schon viel Positives von seinem fachlich grossen Wissen gehört. Wunder erwarten wir auch von ihm keine. Aber vielleicht neue Therapieansätze? Möglichkeiten?
Pünktlich treffen wir in der Uniklinik ein.
Er schaut sich die Bilder an, scrollt sie durch und immer mal wieder hören wir ein überraschtes, leises "Buh" und "Mhmm". Heute irritiert es mich nicht mehr, bin gefasst. Habe die Bilder schon selber studiert und weiss, es sieht nicht gut aus. Trotzdem. Irgendeine Lösung muss es doch einfach geben für Malins Knochen. Es kann doch nicht sein, dass sie über Jahre diese vielen Schmerzmittel schluckt und trotzdem kaum gehen kann...
Wir haken vorsichtig nach. Wie weiter...?
Auch er könne keine Wunder vollbringen, sagt er. Dachten wir uns.
Das primäre Ziel sei, dass Malin ohne Stöcke und vor allem schmerzfrei gehen könne. Mehr dürften wir nicht erwarten.
Sport? Snowboarden? Rudern? Irgendwann?
Nein.
Kein Sport.
Sei so nicht möglich, ausgenommen leichtes Fahrradfahren oder Schwimmen. Keinesfalls Zuviel Druck auf die Beine und schon gar kein Schlag. Liegt nicht drin.
Malins grosser Wunsch, endlich wieder einmal auf ihrem Snowboard zu stehen, schwebt in diesem Moment leise davon. Weit weg. Und vieles andere mit.
Er macht uns zwei Vorschläge: Eine voraussichtlich zwei Jahre dauernde intravenöse Therapie mit Bisphosphonat und die hyperbare Sauerstofftherapie (Therapie in Überdruckkammern und zusätzlichem reinen Sauerstoff). Bisphosphonat kennen wir schon. Es sind jene Wirkstoffe mit antiresorptiven Eigenschaften. Sie hemmen den Zellabbau im Knochen und werden beispielsweise für die Behandlung von Osteoporose eingesetzt. Oft erfolgreich, aber: Mögliche Nebenwirkungen sind Muskel- und Skelettschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Grippesymptome sowie im schlimmsten Fall schwer therapierbare Kiefernekrosen.
Da haben wir's. Nekrosen. Umgangssprachlich: Knocheninfarkt. Knochengewebe, welches abgestorben ist. Tot. So wie bei Malins Ober- und Unterschenkelknochen und den Kniescheiben. Bisher hatten wir nicht den Mut, Bisphosphonate einzusetzen. Die Angst vor weiteren schweren Nebenwirkungen (den Kiefernekrosen) war zu gross, Malin hatte ja während der Chemotherapie schon weiss Gott wie viele Komplikationen "gesammelt"!
Und was jetzt? Die Chemotherapie ist seit 10 Monaten abgeschlossen, der Körper konnte sich wenigstens ansatzweise von den ganzen vergangenen Strapazen erholen. Aber reicht das?
Dürfen wir es JETZT wagen? Ich erkläre dem Professor unsere Bedenken. Er versteht. Aber er sagt auch: "Überlegen Sie es sich trotzdem nochmals. Wir können die Infusionen jeweils genau dosiert und auf Malin abgestimmt einstellen. Dreimonatlich eine Infusion während zwei Jahren. Wenn es meine Tochter wäre, ich würde es versuchen..."