Es ist soweit. Die erste Infusion der Bisphosphonattherapie. Da diese zu starken Nebenwirkungen führen kann, bleibt Malin eine Nacht stationär. Sie wird in ihr Zimmer geführt. Ein zweites, benutztes Bett steht drin, eine volle Reisetasche daneben. Es scheint, als hätte sie diesmal eine Zimmergenossin. Das passt, sie freut sich darüber.
Erstmal steht die Sonografie von Nieren und Bauchraum auf dem Programm. Es dauert lange, Bild für Bild wird genau studiert und abgespeichert. Das transparente Gel ist schon auf dem ganzen Bauch verteilt. Ich starre krampfhaft auf den Bildschirm. Nicht weil ich viel darauf erkennen würde, nein, ich kämpfe gegen die Müdigkeit an. Der abgedunkelte Raum verfehlt seine Wirkung nicht, hie und da nicke ich kurz weg. Auch Malin hat Mühe.
Einatmen - Luft anhalten - ausatmen.
Immer wieder.
Das selbe nochmals auf dem Bauch liegend. Ultraschall der Nieren.
"Die Therapie kann unter anderem auch Nierensteine verursachen," klärt uns der Assistenzarzt auf und hält Malin Tücher hin, damit sie das Gel wegputzen kann. Draussen im hellen Korridor werden wir langsam wieder wach.
Das Venflon wird gesteckt, Malins Venen sind schlecht sicht- und spürbar. Beim zweiten Anlauf klappt's. Wir warten wieder. Denken dabei auch an Joel, der genau jetzt an seiner letzten Maturaprüfung im Fach Biochemie sitzt. Wie es ihm wohl geht? Bald hat er es geschafft!
Fragen uns, wer das Mädchen nebenan ist und lesen dessen Namen auf dem Schild beim Bett. Noch nie gehört, kennen wir nicht.
Dann kommt sie zur Tür hinein, schaut uns musternd an, wie wir wohl auch sie. Wir stellen uns vor. Sie sich auch.
"Warum bist du da?" fragt sie.
"Ha Chräbs gha, dur d'Chemotherpie sind mini Chnöchä ide Bei kaputt. Und dui? Warum bisch dui da?"
"Psychische Probleme, Suizidversuch."
Ihre Direktheit lässt uns für einen Moment verstummen. Aber sie, sie spricht weiter wie ein Wasserfall, erzählt, als würde sie uns schon lange kennen. Innert Kürze kennen wir eine Kurzversion ihrer Lebens- und Leidensgeschichte. Sie stimmt nachdenklich.
Das Mädchen fragt Malin, ob sie ebenfalls draussen am kleinen Tisch im Korridor das z'Mittag essen würde. Malin nickt. Es ist das erste mal, dass sie das überhaupt kann. Während der Chemotherpie musste sie ja immer den Mundschutz tragen. Essen mit Mundschutz geht schlecht.
Ein anderes Mädchen sitzt bereits am Tisch. Sie ist ganz offensichtlich untergewichtig. Anorexie. Eine Pflegefachfrau sitzt neben ihr und kontrolliert akribisch jeden Bissen, den sie zu sich nimmt.
Der Anblick der drei Mädchen löst bei mir ambivalente Gefühle aus: Ein Mädchen wollte sich das Leben nehmen, eines hungert sich todkrank und Malin, sie kämpft seit Jahren mit aller Kraft um ihr Leben.
Eine eigenartige Situation. Irgendwie schräg. Und alle auf derselben Station...
Heute kann ich damit umgehen. Das war nicht immer so.
Spätherbst 2017, Malin und ich spielten im selben Korridor Ligretto, als sich ein gleichaltriges Mädchen zu uns gesellte und mitspielte. Beide sahen ähnlich zerbrechlich aus. Malin wurde damals zusätzlich künstlich ernährt, kämpfte auch noch gegen das Untergewicht an und sass mit ihrer Glatze und Mundschutz neben dem magersüchtigen Mädchen. Sie verstanden sich gut, ein nettes Mädchen, auch ich mochte sie.
Und doch hatte ich ganz plötzlich grosse Mühe. Ich wusste sehr wohl, dass auch dieses Mädchen sehr krank war, hatte schliesslich einst meine Diplomarbeit über Essstörungen geschrieben. Aber in diesem Moment schien der Verstand sich auszuklinken, die Emotionen als Mutter kamen hoch. Seit Monaten hilflos am Zusehen, wie Malin litt und kämpfte!
"Iss doch einfach Mädchen! Iss einfach! Das ist doch nicht so schwer! DU hast die Wahl!" hätte ich am liebsten geschrien.
Aber ich tat es nicht, blieb stumm. Zum Glück. Denn es IST schwer, ich weiss. Wir spielten weiter Ligretto als wäre nichts.
Heute, beim Anblick der drei Mädchen am Esstisch, fällt mir die Situation von damals wieder ein.
Wie es dem Mädchen wohl jetzt geht?
Ich lasse die drei essen, gehe derweil ins Zimmer und lese.
Das Bisphosphonat tröpfelt in Malins Venen. Am Monitor sind die verschieden farbigen Kurven sichtbar: Puls, Sauerstoffsättigung, EKG. Sie wird diese Nacht weiter überwacht. Alles ist in Ordnung, ich verabschiede mich von den beiden. Wenn alles gut läuft, darf sie bereits morgen wieder nach Hause.