Selbstschutz

Sonntag Abend. Es freut mich besonders, dass wir vollzählig sind, denn auch Joel durfte nach drei Wochen wieder für ein Wochenende nach Hause.

 

"Chönntet iher üch vorstelle, es paar Frage bimene Interview z'beantworte? Über diä Ziit, won ich chrank gsi bi?" fragt Malin in die Runde am Esstisch.

Es geht um die Anfrage eines Maturanden. Er hat vor, einen Film über krebsbetroffene Kinder und Jugendliche zu drehen und Malin hat sich bereit erklärt, ihn bei seiner Maturaarbeit zu unterstützen.

Vielleicht - so hoffen wir insgeheim - könnte es ihr gar helfen, die letzten Jahre zumindest ansatzweise aufzuarbeiten.

 

Enyas Antwort kommt prompt.

"Nein, ich kann das nicht."

Bin überrascht, das hätte ich nicht gedacht. Sie ist doch sonst recht offen.

"Aber warum denn? Warum kannst du keine Fragen beantworten?" frage ich sie.

"Ganz einfach, weil ich mich nicht mehr richtig daran erinnern kann... Ich weiss wohl, DASS es so war - aber ich weiss nicht mehr WIE das genau für mich war..."

 

"Erinnerst du dich nicht mehr an....?"

Wir erzählen ihr einige recht einschneidende Situationen von damals und sie, sie schaut uns nur fragend an.

"Nein, ich erinnere mich nicht."

"Mir geht es ganz ähnlich," meint nun auch Joel dazu.

 

Es macht mich nachdenklich. Und ich muss mir eingestehen, dass ich vieles wohl nur deshalb weiss, weil ich es mir aufgeschrieben habe. Eben meine Art des Verarbeitens. Wüsste ich das alles sonst noch?

Kaum. Auch ich habe einiges verdrängt.

Die Gefühle allerdings, diesen tiefen Schmerz und die Angst um unser Kind, aber auch die empfundene Erleichterung und die Dankbarkeit als es wieder aufwärts ging - an diese Emotionen erinnere ich mich gut.

Ich erinnere mich nicht nur, manchmal glaube ich sie noch zu spüren.

Sie scheinen eingebrannt. 

 

Ich denke, der Mensch hat eine besondere Fähigkeit Schlimmes auszublenden, negativ Erlebtes zu verdrängen oder gar zu vergessen. 

Selbstschutz.

Man lindert damit den Schmerz und schafft sich so eine Möglichkeit, das Vergangene ruhen zu lassen, neue Zuversicht zu gewinnen und den Fokus wieder nach vorn zu richten. Das ist gut so. Überlebenswichtig.

Resilienz ist die Fähigkeit, (Lebens)Krisen zu bewältigen und gestärkt den Anschluss im Alltagsleben wieder zu finden.

 

Malins Geschwister haben intuitiv die für sie passende "Strategie" gewählt.

Sie haben mitgetragen, ertragen, verdrängt - und vergessen.

Für den Moment mag das so stimmen für sie. 

Irgendwann - vielleicht erst in ein paar Jahren - wird wohl der Zeitpunkt für eine Auseinandersetzung und Aufarbeitung des Vergangenen da sein. In einer Weise, die für sie stimmt.

Es liegt an uns Eltern achtsam zu bleiben, damit wir auch ihnen - wenn nötig - beistehen und sie unterstützend begleiten können.