Es ist halb sieben, noch dunkel. Winterlich kalt. Der Mond leuchtet nicht mehr ganz so prall gefüllt über dem Pilatus. Scheint uns zu begrüssen.
Ich ziehe Malins Koffer hinter mir her, während sie an den Stöcken voraus geht. Alles ist noch angenehm still. Ein Mann sitzt rauchend im Rollstuhl vor der Tür, das offensichtlich verletzte Bein in einer Schiene gestreckt. Wir grüssen ihn und gehen weiter durch die Drehtür zum Empfang.
"Hallo Malin!" sagt eine sympathische Frau und lächelt sie an.
Ich frage mich, woher wir uns vielleicht kennen und suche krampfhaft aber vergeblich nach Namen und Gesichter. Auch Malin schaut mich unsicher an.
"Du kennst mich nicht." klärt die Frau schliesslich freundlich auf.
"Aber ich kenne dich - oder jedenfalls deine Geschichte. Ich habe sie auf der Webseite mitgelesen. Und deshalb freue ich mich ganz besonders, dass ich dich heute hier begrüssen darf!"
Sie instruiert uns und wünscht Malin ganz viel Glück und alles Gute.
Malin freut sich über diese unerwartete, besonders herzliche Begrüssung an diesem Morgen. Tut grad irgendwie gut. Denn eine gewisse Anspannung ist unbestritten da. Bei uns beiden. Angst vor der Operation hätte sie zwar nicht unbedingt, wie sie sagt. Aber was nach der OP folgen wird, davor hat sie ziemlichen Respekt. Physio, neuerliche Schmerzen, wieder normal laufen lernen, und die über Jahre stark verkürzten Sehnen wieder dehnen...
Ein junger Mann holt uns ab und begleitet uns aufs Zimmer. Auch er grüsst mit: "Hallo Malin!"
"Dä isch ai im Kollegi gsi," murmelt mir Malin später erklärend zu. Und auf dem Korridor zum Zimmer werden wir von weiteren uns bekannten Gesichtern begrüsst. Das ist ungewohnt.
"Das isch de äbä dä Unterschied, wemä so nooch vo Deheimä im Spital isch," stellt Malin fest, "isch scho echli speziell, wemä so viel Lüüt kennt..."
Sie wird im Bett nach unten gerollt, wir verabschieden uns, ich stehe erst etwas unschlüssig herum, fahre dann wieder nach Hause.
Im Autoradio wird über die laufende Ski-Weltmeisterschaft berichtet, über das Ausnahmetalent Marco Odermatt, der als Topfavorit seine WM-Rennen bestreiten wird. Gut möglich, dass er Weltmeister wird.
Weltmeisterin. Genauso hat eine Freundin von Malin sie in ihrer Glückwunschkarte genannt. Wie recht sie hat! Und diese unsere Weltmeisterin liegt jetzt, just in diesem Moment, im Operationsraum.
Neulich sagte sie: "Weisch, es isch scho chli komisch, diä nämid ja de eifach es Stuck vo mier wäg - und ersetzid's."
Tatsächlich, ein Teil kommt unwiederbringlich weg - und wird mit Kunststoff und Metall ersetzt.
Dieser Gedanke führte zur Idee, sich auf irgend eine Art und Weise von diesem Knie zu "verabschieden".
Das mag verrückt klingen. Ist es vielleicht auch.
Und doch, vielleicht vermag es Malin zu stärken, zu trösten und gedanklich positiv auf das Ganze einzustellen. Auf die neue Hürde, die sie nun angehen wird.
Also packten wir gestern Abend ein kleines dünnes Holzschiffchen, Kerzen, Decken und Stühle und fuhren an den See. Malin beschriftete das Holz mit allerlei Stichworten. Alles Dinge, die sie früher unternahm, als ihre Beine noch schmerzfrei funktionierten. Das war einiges.
Und dann schickte sie das kleine Holzschiffchen auf die Reise.
Liess es mit vielen guten Wünschen vom starken Wind in den Vierwaldstättersee hinaustragen...
Ich warte. Und schreibe. Das lenkt ab. Vom Gedankenkarussell. Denke positiv. Denke an all die grossartigen Freunde und Bekannten, die Malin viel Glück für die OP gewünscht oder eine Kerze angezündet haben. Sogar gebackene kleine Vespas hat sie erhalten und viele kreativ gestaltete und geschriebene Karten.
Aber zwischendurch kommt auch - blitzartig, unausweichlich und aus heiterem Himmel - ein anderer Gedanke: Was ist, wenn das Knochengewebe (das auf den Bildgebungen wie ein Lochsieb aussieht) nun doch nicht genügend stabil für die Befestigung einer Prothese ist? So, wie es die anderen Orthopäden befürchtet hatten? Was dann...?
Versuche, den Gedanken zu verdrängen.
Denke an das kleine Holzschiffchen - wo es jetzt wohl sein mag?
Noch unterwegs? Vielleicht in einem anderen Kanton?
Oder irgendwo gestrandet?
Das Telefon klingelt. "Die Operation ist gut verlaufen!" sagt der Orthopäde am anderen Ende.
Ich könnte ihn umarmen für diesen Satz! Und ich bin ihm so dankbar, dass er anruft. Müsste er ja nicht, schliesslich ist sie volljährig.
"Der Knochen war pickelhart! Manchmal sieht es auf den Bildern anders aus, als es dann tatsächlich ist.
Malin wird noch ein paar Stunden im Aufwachraum überwacht und mit den Schmerzmitteln richtig eingestellt, bevor sie ins Zimmer gebracht wird."
Was für eine Erleichterung! Alles gut gelaufen!
Wir werden in den nächsten Tagen der Schweizer Skinati die Daumen drücken.
Meine ganz persönliche Weltmeisterin allerdings steht jetzt schon fest!