Rabius

"Sie haben das Ziel erreicht", bestätigt mir das Navi. Zwar habe ich eine Stunde im Stau gestanden, aber was soll's, ich habe Zeit. Ein stattliches Holzhaus mit schönen, knallroten Fensterläden steht vor mir. Der Wohnungsschlüssel ist wie vereinbart hinterlegt.

Ich bin überrascht über die Grösse der Wohnung. Drei gemütlich und schön eingerichtete Zimmer mit je zwei Betten, ein zusätzliches Babybett, eine Stube mit einem Ausziehsofa, ein Esszimmer und eine grosse, neue Küche. Sämtliches Material (Bettwäsche, Frottétücher, Küchentücher und Lappen, Gewürze, Kinderhochstuhl, Wickeltisch, Triptrap sowie diverse Kinderspielsachen, Bastelutensilien und Bücher) ist grosszügig vorhanden. An alles ist gedacht worden. Eine kleine Oase mitten in Rabius. Zum Wohlfühlen, sich erholen und auftanken. Die Wohnung wird von der Kinderkrebshilfe Zentralschweiz für Familien mit einem krebsbetroffenen Kind während der Intensivchemo kostenlos zur Verfügung gestellt. 

Eine kleine Auszeit aus dem intensiven Alltag. Sich erholen und dabei neue Kraft tanken.

 

Normalerweise ist die Wohnung gut besucht, dieses Jahr aus uns unerklärlichen Gründen nicht. Und deshalb habe ich kurzentschlossen ein paar Tage gebucht und stehe nun mit Sack und Pack in der Wohnung. Allein. Denn Padi arbeitet, Joel hat Intensivwochen im Studium, Enya ist im Pfadilager und Malin wäre es eigentlich seit Donnerstag auch, ist jedoch am Samstag bereits wieder nach Hause gekommen. Bauchschmerzen und Durchfall. Letzteres ist in einem Lager sehr unbequem, erst recht wenn man nicht gut zu Fuss ist. Denn das Plumpsklo liegt am anderen Ende des Lagerplatzes, damit man von dessen "Duftwolken" weitgehend verschont bleibt. Malin ist frustriert. Zu gerne wäre sie noch bis zum geplanten Dienstag geblieben. Dieses Mal sind es nicht ihre Beine sondern der Bauch, der ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat.

 

Mit mir mitkommen will sie allerdings nicht. Rabius liegt in den Bergen, eine wunderbare Landschaft zum Wandern, und wandern geht nicht.

"Wir können uns auch anderweitig beschäftigen," schlage ich ihr vor.

Aber sie zieht es vor, sich zu Hause erstmal richtig auszukurieren. Und so fahre ich allein los.

"Was?" schaut mich Joel irritiert an.

"Du gehst ganz allein? Ist etwas nicht in Ordnung?"

"Doch, alles bestens, keine Sorge!" beruhige ich ihn lachend.

Tatsächlich erinnere ich mich nicht, wann ich zuletzt allein verreist war. Wohl vor 25 Jahren auf meiner längeren Reise durch Südamerika? Lang ist's her.

 

Ich schlendere durch das Dorf, entdecke ein kleiner Consum, wo ich das Nötigste sowie ein paar einheimische Spezialitäten einkaufen kann. Es wird überall rätoromanisch gesprochen. Unsere vierte Landessprache gefällt mir, lässt sogleich Feriengefühle aufkommen. Und überhaupt sind die Bündner einfach sympathisch. 

"Bun di", grüssen sie alle freundlich beim Vorbeigehen. Gefällt mir und ich ersetze mein anfängliches "Grüezi" kurzerhand auch damit.

Die Sonne lässt die dunklen, verwitterten Holzfassaden der Häuser warm und einladend erstrahlen. Rabius (die ersten beiden Vokale werden schnell ausgesprochen, das U dafür gedehnt) - was für ein schöner Ort.

Ich geniesse die paar Tage hier in vollen Zügen. Wandere, bade im Bergsee (Lag da Laus), schreibe, zeichne, lese, sammle diverse Heilpflanzen, bewundere die Natur - und schaue kaum je auf die Uhr. Die Zeit hier oben scheint unwichtig, steht irgendwie still. Ich muss überhaupt nichts, ich darf.

Genau dieses Gesamtpaket in Kombination mit der Bündner Bergluft tut so was von gut.

Danke dafür!