Sie rennt quer durch die Küche. Nicht schnell und noch etwas unbeholfen - aber man kann es doch als "rennen" oder zumindest "schnell gehen" bezeichnen. Das kommt mir so eigenartig vor, dass ich völlig verdutzt dastehe und zuschaue, wie sie um die Kücheninsel rennt.
"Ich weiss gar nümme, wiä das gnai gaht... ich weiss ai nümme, wenn ich s'letscht Mal gsprungä bi..." sagt sie und macht eine Verschnaufpause.
Ich weiss es auch nicht mehr. Schon lange her.
Physiotherapie und Erholungszeit verfehlen die Wirkung nicht. Es geht langsam bergauf.
"Los einisch!" ruft sie mir zu und geht leicht in die Knie. Die Gelenke knacken. Und zwar so geräuschvoll und laut, dass ich zusammenfahre und das Gesicht verziehe, als ob es MICH schmerzen würde. Tut es aber nicht. Auch Malin selbst schmerzt das knackende Geräusch nicht (kann ich mir zwar schwerlich vorstellen...).
Daran müsse sie sich gewöhnen, sagt ihr der Orthopäde, das sei normal. Manchmal knacken und krosen ihre Knie schon beim blossen Gehen - oder eben beim Rennen.
Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt. Finde, es klingt schrecklich und es gelingt mir überhaupt nicht, den Reflex unter Kontrolle zu halten. Wenn ich dieses knackende Geräusch höre, entgleist mein Gesicht regelmässig und wird zu einer schmerzverzerrtem Fratze. Malin lacht mich manchmal deswegen aus und lässt es bewusst noch mehr "krachen".
Unsere Holztreppe ins obere Stockwerk des alten Häuschens ist recht steil. Seit Jahren hat sich Malin ihre eigene Technik des Treppensteigens angeeignet. Je nach Gesundheitszustand hat sie die Technik angepasst. Eine Zeit lang konnte sie nur noch auf allen Vieren kriechend hoch und wieder runter. Sie blieb deshalb meistens den ganzen Tag im Wohnzimmer auf der Couch, weil die Treppe viel zu anstrengend war.
Mittlerweile geht sie recht locker die Treppe hoch, aber - immer noch rückwärts die Stufen runter.
"Es gaht irgendwie nid anders. Ich truiä gar nid, vorwärts abe z'laifä... weiss nümme, wiä das gahd..."
Sie muss es wieder lernen. Im Kopf und in den Beinen. So wie so einiges andere auch. Nicht nur Treppen laufen und rennen.
Sie muss auch lernen, selbstbestimmt und initiativ zu sein und ihr Leben wieder selber anzupacken. In den letzten Monaten verlor sie sich im "Nichtstun". Die Batterien waren ganz offensichtlich komplett leer. Sie verschlief fast ganze Tage bei schönstem Wetter in ihrem Zimmer, unternahm zwar einige einzelne Ausflüge mit KollegInnen, aber sie schien irgendwie dauermüde, orientierungs- und planlos.
Es verunsicherte uns. Einerseits gönnten wir ihr diese Auszeit. Auftanken. Einmal einfach nichts tun müssen, sondern einfach sein. Nach so vielen intensiven Jahren hat sie das mehr als verdient. Und sie konnte ja mit ihren operierten Beinen noch keine grossen Sprünge machen. Auch das war klar.
Aber vielleicht sitzend? Schreiben, lesen, kreativ etwas gestalten, ein Fotoalbum kreieren, malen - oder Pläne schmieden für ihre Zukunft? Mit dem Zug irgendwohin fahren und jemanden besuchen? Eine Reise planen und buchen?
Jetzt hätte sie doch endlich Zeit und die Möglichkeit so vieles zu tun und zu unternehmen... - aber sie tat es nicht.
Woche für Woche und Monate vergingen. Sie schlief sehr viel und lange und kam einfach nicht in die Gänge.
An manchen Tagen schien sie völlig taten- und energielos und bewegte sich nur nach draussen, weil wir sie dazu aufforderten.
Ein absolutes Kontrastprogramm zu Enya. Sie, mit ihrer manchmal rastlosen Art, sprudelt nur so vor Ideen und ist voller Tatendrang, organisiert sich und setzt sämtliche Pläne umgehend um. Gegensätzlicher könnten die beiden kaum sein.
Ich frage nach bei der Ärztin: Kann es sein, dass nach einer Therapie die Müdigkeit über so viele Wochen und Monate anhält? Dass sie sich kaum davon erholen kann?
Diese bestätigt es. Das kann sein. Es ist sogar oft so. Die sogenannten Survivors haben zwar den Krebs überlebt, kämpfen aber oft mit Spätfolgen. Eine davon ist diese ausgeprägte Müdigkeit. Nun haben wir zumindest dafür eine Erklärung.
Und diese Antriebslosigkeit? Orientierungslosigkeit? Dieses Planlose...?
Über Jahre wurde sie fremdbestimmt. Sie wurde "verplant". Von den Ärzten und Therapeuten, von der Schule, von uns. Es wurde ihr vorgeschrieben, welche Medis sie wann, wie einnehmen musste, was sie essen durfte und was nicht, was sie mit ihren tiefen Blutwerten tun durfte und was nicht, wann sie wo sein musste, welche Therapien und Operationen anstanden, welche Prüfungen zu lernen und zu schreiben waren....
Vieles wurde ihr abgenommen, vieles für und über sie entschieden.
Sie wurde als Dreizehnjährige ausgebremst in ihrer Entwicklung, selbständig zu werden, sich abzunabeln, loszulösen, um eigene Wege auszuloten und zu gehen.
Wie also sollte sie das jetzt auf einmal können?
Ihre Geschichte hat sie tief geprägt und sie ist reifer, abgeklärter und mental stärker als viele in ihrem Alter.
Jetzt aber muss sie lernen ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu spüren, eigene Ideen zu entwickeln und nach Möglichkeiten und Wegen suchen, diese auch selbständig anzugehen. Sie muss lernen, ihr Leben selber zu organisieren und zu planen.
Das ist nicht einfach. Und - sie muss es selber anpacken. Wenn sie jedoch irgendwo anstehen sollte und unsere Hilfe braucht, werden wir für sie da sein. Jederzeit. Unterstützend begleiten, um sie dann aber wieder weiter ziehen zu lassen. Auf ihrem gewählten Weg.
Jetzt kann ich sie verstehen.
Das Leben planen lernen - das muss gelernt sein.
Und das Lernen hört letztlich nie auf...