Juni '17
Es hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen. Fassungslosigkeit macht sich breit. Auf einen Schlag. Unvorbereitet. Die Welt auf der wir waren, ist nicht mehr. Fühlen uns wie auf einem fremden Stern - irgendwo - auf einem anderen Planeten.
Die Erde, unser normaler Alltag, ist weit weg. Nicht mehr greifbar. Was uns so wichtig schien, gibt's nicht mehr. Alles ist anders.
Wir leben wie in einer Blase - zwangsläufig um den "Chemoplaneten" kreisend. Eine Wahl bleibt uns nicht. Schlag auf Schlag. Therapiestart. Chemo ins Hirnwasser.
Soziale Kontakte werden weniger. Geht nicht anders. Alles dreht sich um den Krebs. Um den Kampf gegen den Krebs. Fokussiert. Kräfte werden gebündelt und aufgebraucht. Mehr liegt nicht mehr drin. Mehr ist nicht mehr auszuhalten.
Ziehen uns zurück - auf unseren Planeten - lassen Erde Erde sein. Passen nicht mehr dorthin. Es geht nicht.
Einige Kontakte brechen ab. Überforderung. Sie können nicht anders. Wir können nicht anders. Einige reichen uns die Hand, halten an uns fest. Wir sind dankbar. Und einige neue unverhoffte Kontakte entstehen, darüber freuen wir uns. Sehr.
Kurz nach der Diagnose schon kommen sie, die vielen (gut gemeinten) Ratschläge von überall her. Ein spezielles Pülverchen, Kapseln, Pillen, Säfte.... heilende Kräfte, Kräuter, gute und schlechte Energien, Düfte, Geisterwesen, Pendeln, Ernährungstipps und so vieles mehr. Tausend Sachen gibt es, die helfen beziehungsweise noch mehr schaden können...
Aber WAS ist das richtige aus diesem unendlichen Wirrwarr von Ratschlägen? WELCHER ist der richtige Weg? Es droht die Gefahr sich zu verlieren im nirgendwo. Man klammert sich an jeden Grashalm. Vielleicht nützt es ja doch...? Und Malin? Sie verschliesst sich immer mehr. Sie will nicht mehr. Hat genug von all dem!
Kurz nach der Diagnose - ich halte ein Buch in den Händen. Es wurde uns (mit dem Gedanken zu helfen) zugeschickt: Krebs mit natürlichen Mitteln heilen.
Ich blättere durch, lese quer, bleibe an einer Passage hängen, lese nochmals, kriege einen Heulkrampf.
Da steht wörtlich: "....dass Krebs eigentlich nur ein anderes Wort für "langsamen Selbstmord" ist, der durch falsche Ernährung begangen wird..."
Das sitzt.
Tut weh. Unglaublich weh.
Wir würden nie behaupten, immer alles richtig gemacht zu haben, es gäbe sicherlich Verbesserungspotential. Zum Beispiel weniger Süsses - wir backen fürs Leben gern und lieben Desserts.
Aber, wir waren immer eine aktive Familie, viel draussen in der Natur, bewegten uns oft und gern und alle drei Kids waren in ihrer Sportart zusätzlich aktiv. Wir waren mit den Kindern so oft im Wald, am See, am Fluss und in den Bergen und gaben uns grosse Mühe, uns auch möglichst gesund zu ernähren mit täglicher Rohkost, Salat, Obst, Gemüse in allen Farben..., das Brot backen wir häufig selber, beim Einkauf achten wir auf regionale und saisonale Nahrungsmittel, im Sommer ernten wir einen Grossteil des Gemüses aus unserem Garten, das Fleisch wird oft vom Bauern direkt bezogen, wir achten auf hochwertiges Öl und Fett, verwenden oft Vollkornprodukte, achten auf möglichst wenig Zusatzstoffe auch weil wir kaum Halbfertig- und Fertigprodukte essen. Dies ganz einfach deshalb, weil es mir/uns Freude macht zu kochen und backen und die Gerichte selber zuzubereiten.
Und dann lese ich diese Zeilen aus diesem Buch und zwischen diesen Zeilen: Alle Krebsbetroffenen sind selber Schuld, sind Selbstmörder.
Und die krebsbetroffenen Kinder?
Die fünf Monate alten...? Die zweijährigen...? Die dreizehnjährigen...?
Die Verantwortung liegt bei uns Eltern. Es ist wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Wie ein geschriebener Schrei: SCHULDIG!
Notbremse.
Stopp!
Selbstschutz.
Abstand. Klappe fällt zu. Das schaffen wir sonst nicht.
"Wirf dieses Buch weg! Es tut uns nicht gut!" fordert mich Padi vehement auf. Ein Rest an diesem elenden Gefühl, ein schaler Nachgeschmack bleibt. Hartnäckig.
"Nein! Sie sind nicht schuld!" widersprechen sämtliche Ärzte bestimmt. "Sie hätten nichts tun können! Es sind ganz viele verschiedene Faktoren und Einflüsse, ein Gesamtpaket, das zu einer solchen Diagnose führen kann. Was genau es schlussendlich ausmacht, kann man bis heute nicht wissenschaftlich genau erklären."
Ich glaube durchaus, dass eine gesunde Ernährung wichtig ist, sehr wichtig sogar.
Aber was ist mit jenen, die sich gesund ernähren und trotzdem erkranken? Und mit jenen, die sich ausschliesslich völlig ungesund ernähren, die kaum je Salat, Gemüse oder Früchte auf dem Teller haben und trotzdem gesund bleiben dürfen? Wie ist das denn bitte erklärbar?
Für uns ist es zu spät. Auch Erklärungen werden daran nichts ändern.
Der Krebs ist da.
Wir raffen uns wieder auf, gehen mit Malin weiter den Weg. Sind stets an ihrer Seite. Immer da. Auf unserem fremden Stern. Halten ihre Hand. Versuchen alles, was uns möglich ist. Lieben sie. Leiden mit.
Mutterschmerz.
Vaterschmerz.
Auf und ab. Tränen, Zuversicht und Hoffnung vermischt mit Freude über jeden noch so kleinen Fortschritt, über jeden Lichtblick.
Alles kommt gut.