Es ist der 31. Mai 2017. Seit rund einer Woche ist es soweit: Malins Haare fallen aus. Am Anfang waren es nur vereinzelte, die wir auf dem Kopfkissen fanden und jeweils am Morgen wegklaubten. Mittlerweile sind sie überall. Viele. Und auch wenn wir vorgewarnt waren und wissen was uns erwartet, ist es nicht ganz einfach. Malin ist ruhig - wie immer. Es scheint mir fast so, als ob sie es gar nicht richtig realisiert, oder doch? Der Haarverlust ist ein offensichtliches, untrügliches Zeichen. Jeder weiss - jeder sieht nun, dass sie krank ist.
Malin möchte ihr Haar zu einem Zopf flechten, diesen abschneiden und als Andenken behalten. Ausserdem möchte sie, dass ich ihr die Haare schneide. Seit unsere Kinder ganz klein sind, schneide ich ihnen die Haare. Ich schätze dabei diese besondere Nähe und die guten Gespräche, die jeweils dabei entstehen. Seit Beginn der Pubertät biete ich Joel zwar an zum Coiffeur zu gehen, aber er möchte partout nicht und so schneide ich noch immer allen dreien ihre Haare.
Heute allerdings ist es anders, es macht mir Mühe. Und doch, ich kann Malin verstehen. Ihre Haare fallen büschelweise aus, liegen überall. Auf dem Kopf werden es immer weniger, bis sie irgendwann keine mehr hat - unausweichlich.
Heute morgen sagt sie plötzlich: "Überall sind Haar! Jetzt mönd diä wäg!"
Da wir unplanmässig im Spital sind, haben wir nichts dabei. Der Pflegefachmann hilft aus und bringt uns Schere und Rasiergerät.
Ich flechte ihr den Zopf, wir machen noch einige Fotos. Und dann schneide ich ihr, mit einiger Überwindung, den Zopf ab. Das Haarband fällt heraus. Zurück bleibt unförmig zerzaustes, kurzes Haar. Malin betrachtet sich im Spiegel. Sie sagt nichts. Reglos wie immer. Der nächste Schritt fällt mir noch schwerer. Ich greife zum Rasiergerät, es surrt und ich fahre ihr damit über den Kopf. Reihe um Reihe - bis alle Haare weg sind. Die helle Glatze bildet einen seltsamen Kontrast zu Malins gebräuntem Gesicht. Ihre schöne Kopfform fällt mir auf, sieht man jetzt erst. Malin sagt immer noch nichts. Keine Reaktion. Schaut sich nur stumm im Spiegel an, als ob sie sich fragen würde: Wer ist dieses Mädchen dort...?
Der Pflegefachmann kommt mit einer Schachtel Mutperlen ins Zimmer. Alle Figuren sind haarlos, tragen Mützen. Es sind die Perlen für "Haarverlust". Malin wählt ein lachendes Gesicht mit einer orangefarbenen Kappe auf dem Kopf und Ohrringen und fädelt die Perle an ihrer Kette auf - ein neues Stück ihrer (Krankheits-)Geschichte.
Nicht ein einziges mal hörten wir sie seither über ihre Haarlosigkeit klagen. Sie fand es höchstens schade, dass sie keine Frisuren mehr machen konnte und hatte verständlicherweise Mühe, als die Augenbrauen und Wimpern auch noch gänzlich ausfielen. Dafür fand sie es durchaus positiv, dass ihre Beine im Sommer komplett haarlos waren - nur: "Das isch ja voll unfair, etz han ich keis Haar meh a dä Bei und cha nid emal i d'Badi...!" Einmal mehr staunten wir über ihre unglaubliche und noch dazu humorvolle Gelassenheit!