2. Juni 2017

 

Kaum fünf Wochen ist es her seit Malins Diagnose. Die meiste Zeit davon verbrachten wir im Kispi. Unser Leben steht gerade Kopf. Wir sind da und irgendwie doch nicht. Die Gedanken sind irgendwo, oft wirr, zusammenhangslos. Wie in Trance nehmen wir Tag für Tag, so wie es eben möglich ist.

Ausgerechnet jetzt habe ich in der Schule eine Diplompraktikantin. Ich kenne sie nicht, aber es ist bereits ihr zweiter Versuch und ich bringe es nicht übers Herz, sie in ihrer Situation einfach hängen zu lassen.

Trotz allem. Also ziehe ich es durch, begleite sie, korrigiere ihre schriftliche Diplomarbeit im Kispi auf meinem Klappbett, versuche mich zu konzentrieren. Es macht mir Mühe. Alles. 

Ein Pausenkaffee im Lehrerzimmer - geht nicht mehr. Ich schaffe es nicht, obschon ich ein richtig tolles Team habe. Alle fühlen sie mit, würden mich unterstützen wo immer sie können. Ausnahmezustand. Ich ertrage die mitfühlenden, hilflosen Blicke nicht mehr und wenn die Schüler zur Schulzimmertür hereinkommen, könnte ich weinen: Malin ist im gleichen Alter wie meine Schüler. Nur sind diese gesund - und sie nicht. Gedankenkarussell. Reisse mich zusammen. Und dann, irgendwann, geht's dann doch irgendwie. Es lenkt ab. Und schon ist wieder ein Tag um.

Die Praktikantin schafft es - bestanden - Ziel erreicht.

 

Draussen im Schulhausgang treffe ich auf meinen Arbeitskollegen. Ihm habe ich vor einiger Zeit meine alte Vespa abgekauft. Er fragt, wie es uns geht. Unsere Geschichte hätte ihn sehr betroffen gemacht, sagt er. Man sieht es ihm an. Er hat selber Kinder im gleichen Alter - dann trifft es einen besonders. Ich weiss. 

Seine, beziehungsweise meine alte Vespa ist in der Garage von Grossdädi eingestellt, weil wir eben (noch) keine Garage oder Unterstand haben. Malin findet das jammerschade und immer wenn sie bei Grossdädi zu Besuch war, setzte sie sich klammheimlich auf die Vespa und tat so, als würde sie damit fahren. Ganz allein für sich. Das hat sie mir einmal erzählt - und ich fand das richtig cool.

Und jetzt liegt sie verkabelt im Kispi und ahnt nicht, was noch alles auf sie zukommen wird. Und dann, vor ein paar Tagen, überkommt mich auf einmal intuitiv dieses Gefühl - ich schaue sie an und aus dem Bauch heraus, ganz spontan, höre ich mich sagen: "Wenn du das alles hinter dir hast, wenn du diesen Kampf geschafft hast, dann schenke ich dir meine Vespa!" 

Dieses zuerst ungläubig erstaunte und dann strahlende Gesicht werde ich nie mehr vergessen.

"Waaaas?! Wirklich?"

"Ja, wirklich!"

 

Nun erzähle ich ihm diese Geschichte um seine alte Vespa  - und er ist sichtlich gerührt, freut sich darüber. 

Kaum zwei Wochen später klopft es an die Schulzimmertür und da steht er, mit einer Zeichnung in der Hand. Und er erzählt von seiner Idee, mit einigen Freunden eine Vespa eigens für Malin zu bauen. Nur für sie. Sie könne dann auch die Farbe wählen. Er würde mit seinen Männern schleifen, lackieren, schweissen, schrauben, zusammenbauen.... und sie, sie müsse kämpfen! Es soll für sie während ihrer Therapie eine zusätzliche Motivation sein! Eines Tages auf ihrer für sie zusammengebauten Vespa sitzen und den Fahrtwind spüren können...

Wenn DAS keine besondere Motivationsspritze ist! Er hält mir die Zeichnung hin, die ein Freund von ihm illustriert hat. Darauf ist ein kurzhaariges Mädchen zu sehen. Es sitzt auf einer Vespa, den Fahrtwind im Haar.

"Malin fährt Vespa!" steht in grossen Lettern. 

Was für eine grossartige Idee! Nun bin ich diejenige, die ungläubig, erstaunt und gerührt dasteht. Mitten in unserem Sturm eine so wunderbare Geschichte! 

 

Die Chemogutterli hängen an "Kari" und der wiederum hängt an Malin, die glatzköpfig im Spitalbett liegt. Die farbigen Flüssigkeiten tröpfeln in ihre Venen, sie achtet gar nicht darauf, ist beschäftigt mit Bildern von Vespas in allen Farben, die ihr auf dem kleinen Bildschirm ihres Handys entgegenleuchten. Immer wieder schaut sie sich nun Bilder an, überlegt sich mögliche Farben und rollt in ihren Träumen bereits mit ihrer Vespa an den See - mit Fahrtwind im Haar und ihrer Freundin hinten drauf...

 

Alles kommt gut!

Dankä tuisig!